Gefangene Ukrainer in Russland: Wer sind die politischen Häftlinge?

Gefangene Ukrainer in Russland: Wer sind die politischen Häftlinge?

Vor mehr als einem Jahr stand der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskyj an der Rollbahn auf dem Flughafen Borispol in Kyjiw und begrüßte 35 Ukrainer, die bis dahin in Russland in Haft saßen und bei einem Gefangenenaustausch freikamen. Das waren zwar nicht alle auf der langen Liste politischer Gefangener. Dafür waren unter den Freigelassenen bekannte Namen wie Oleg Sentsow, Roman Shushenko, Wolodymyr Balukh, Oleksandr Koltschenko, Pavlo Hryb sowie 24 Seeleute, die von Russland illegal im Asowschen Meer verhaftet worden waren. Diese Menschen gelten in der Ukraine und der Welt als Symbol für den Kampf um die Freilassung aller politischer Häftlinge. Ihre Befreiung wurde in der Ukraine als ein wichtiger diplomatischer und politischer Sieg wahrgenommen.

Aber hunderte Ukrainer, die in Russland immer noch aus politischen Gründen in Haft sitzen, sind der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Das erschwert die diplomatischen Bemühungen um ihre Freilassung erheblich. Darum wollen wir einige Häftlinge vorstellen und die Hintergründe ihrer Gefangenschaft zu erklären.

1. Wolodymyr Todosiienko. Im August 2014 wurden Einheiten der Ukrainischen Armee nahe der Stadt Ilowajsk im Donbas eingekesselt. Sie konnten jedoch eine vermeintlich sichere Passage aushandeln. Als die Einheiten den Kessel über einen „sicheren Korridor“ verlassen wollten, gerieten diese in einen Hinterhalt pro-russischer Söldner. Die russischen Kräfte töteten 250 ukrainische Kombattanten und nahmen die Überlebenden fest.

Der 23 Jahre alte Wolodymyr Todosiinko hatte sich kurz zuvor einem Freiwilligen-Batallion angeschlossen und war bei dem Gefecht in Gefangenschaft geraten. Seine Verwandten erfuhren nur durch Zufall von seiner Festnahme. „Wir sahen einen Beitrag im russischen Fernsehen und erkannten unseren Sohn“, sagt Volodymyrs Mutter Tetjana. Den einzigen Telefonkontakt mit ihrem Sohn hatten die Eltern im Jahr 2014. „Mama, pass’ auf meine Frau auf, sie ist schwanger“, war seine einzige Bitte. Sechs Jahre befindet sich Todosiinko nun schon in den Separatistengebieten in Haft, wobei sein Schicksal seit 2015 unbekannt ist. Bisher tauchte sein Name nicht auf einer Austauschliste auf. In der Zwischenzeit verlor Todosiinko seinen Vater und hatte seit seiner Haft keinen Kontakt mehr zu seiner Tochter.

2. Valentyn Vyhivskyi. Am 17. September 2014 fuhr Valentyn Vyhivskyi, ein 32 Jahre alter Unternehmer, Euromaidan-Aktivist und Luftfahrt-Enthusiast, in einem Zug auf die Krim. Laut seinem Vater Petro wollte Valentyn an einer Flugausstellung teilnehmen und nicht auf der Halbinsel übernachten. Valentyn konnte nicht wissen, dass er zweitausend Nächte und mehr im Gefängnis verbringen würde.

Die Umstände von Valentyns Verhaftung und seinem Prozess werden von Russland als geheim eingestuft. Auch seine Verwandten kennen die Hintergründe nicht. Bekannt ist lediglich, dass sich Valentyn auf der Krim mit einer Bekannten getroffen und dieser Geld für die Behandlung ihres Großvaters überreicht haben soll. Nach der Annexion der Krim waren Überweisungen auf die Halbinsel nämlich nicht mehr möglich. „Einige Informationen deuten daraufhin, dass Valentyn vorsätzlich auf die Krim gelockt wurde, um ihn dort zu verhaften“, sagt sein Vater.

Von seiner Verhaftung durch den russischen Inlandsgeheimdienst FSB erfuhren die Valentyns Eltern erst einen Monat später. Valentyn wurde zunächst wegen angeblicher Wirtschaftsspionage und später wegen allgemeiner Spionage angeklagt. Neun Monate habe er nicht mit dem ukrainischen Konsul sprechen dürfen, außerdem soll er durch Scheinhinrichtungen gefoltert worden sein. Darüber hinaus habe man versucht, ihn für den russischen Geheimdienst anzuwerben, was er ablehnte. Nach 14 Monaten Gefangenschaft wurde Valentyn wegen angeblicher „Wirtschafts- und Militärspionage im russischen Luftraum“ zu 11 Jahren Haft verurteilt. Valentyn sitzt seitdem in Einzelhaft ohne Besuchserlaubnis und darf lediglich zwei Telefonate im Jahr führen. Verhandlungen über einen Austausch waren bisher erfolglos.

3. Viktor Shur Der Juwelier und Kunsthändler aus der ukrainischen Stadt Tschernihiw war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschäftlich in Russland tätig, weshalb er die russische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. In der Ukraine lebte er seitdem mit einer Aufenthaltserlaubnis.

Im Dezember 2014 wurde Viktor im Oblast Briansk vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB brutal verhaftet und für 15 Tage in Arrest gesteckt - angeblich wegen einer Auseinandersetzung mit einem Polizisten. Später wurde ihm vorgeworfen, er hätte Fotos von einer „strategischen Anlage“ gemacht. Dabei soll es sich um überflutete Bergbaugruben und ein ungenutztes Flugfeld mit grasenden Vieh gehandelt haben, berichtet Viktors Tochter.

Nachdem er gefoltert worden war, habe Viktor sein „Fehlverhalten“ zugegeben. Bei einem Geständnis würde er nicht mehr als drei Jahre Haft erhalten, versicherten ihm seine Peiniger. Dennoch wurde Viktor wegen angeblichen Hochverrats zu 12 Jahren Haft verurteilt.

2016 erhielt Shur die ukrainische Staatsbürgerschaft, so dass sich der ukrainische Konsul über die Haftbedingungen informieren kann. Derzeit laufen Verhandlungen, Viktor auf eine Liste für einen Gefangenenaustausch zu setzen. In der Zwischenzeit verstarb Viktors Vater, auch Viktors Sohn verschwand 2017 spurlos. Ebenso soll die Kunstsammlung von Viktor Shur illegal und gewaltsam nach Russland verschafft worden sein.

4. Remzi Bekirow Auf der von Russland besetzten Krim sitzen rund 100 Krimtataren aus politischen Gründen in Haft. Mehr als 60 Krimtataren werden von Russland beschuldigt, der islamischen Organisation Hizb ut-Tahrir anzugehören, die in Russland verboten ist. Tatsächlich nutzt Russland die Anschuldigungen als Vorwand, um pro-ukrainische Krimtataren zu verfolgen.

Remzi Bekirow, ein Journalist von der Krim und Vater von drei Kindern, wurde im März 2019 unter dem Vorwand verhaftet, einer Terrorzelle anzugehören. Vor seiner Verhaftung berichtete der Aktivist über die Verfolgung und Verurteilung von Krimtataren - bis er selbst ins Visier der russischen Besatzer geriet.

Remzi wurde am 28. März in Rostow verhaftet, wo er über Gerichtsverfahren gegen Krimtataren berichtete“, erzählt seine Frau Halide der globalen Kampagne Prisoners Voice. Sicherheitskräfte hätten Bekirow und andere Aktivisten in einem Café aufgegriffen, in einen Wald geschleppt und dort brutal verprügelt, erklärt die Ehefrau. „Sie alle dachten, das wäre der letzte Tag ihres Lebens, berichtet Ehefrau Halide weiter. Danach habe man ihren Ehemann in Simferopol vor Gericht gestellt, wo er unter Verletzung des Prozessrechts zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Bekirow und seine Mitstreiter würden unter prekären Bedingungen in Haft sitzen, ohne angemessene Nahrung und Zugang zu medizinischer Versorgung. Im Dezember 2019 wurde Bekirow zwangsweise drei Wochen lang in eine Psychiatrie gesperrt und psychologischem Druck ausgesetzt, sagt Ehefrau Halide.

Die Ermittlungen gegen Bekirow dauern an, dem Journalisten droht lebenslange Haft.

5. Oleksandr Martschenko Im Jahr 2014 fuhr Oleksandr Martschenko nach Donezk, wo er sein Auto in eine KFZ-Werkstatt zur Reparatur gab. Wegen der Kämpfe, die kurze Zeit später ausbrachen, konnte er den Wagen nicht rechtzeitig aus den Separatistengebieten zurückholen. Später erfuhr Martschenko, dass sein PKW von einem Anführer der Separatisten beschlagnahmt worden war. Im Dezember 2018 teilte ihm ein Bekannter mit, dass er das Fahrzeug wiederhaben könne.

Nachdem Oleksandr das Fahrzeug in Donezk wiederfand, wurde er auf der Rückreise nahe der Kontaktlinie von pro-russischen Separatisten entführt. Später stellte sich heraus, dass er in die russische Stadt Krasnodar verschleppt und dort wegen angeblichen Schmuggels von Militärgeräten und Spionage angeklagt wurde.

„Nachdem Oleksandr in der ‚Volksrepublik Donezk‘ entführt worden war, sperrte man ihn in einen Keller und folterte ihn mit Elektroschocks. Danach sollte er ein Geständnis unterschreiben oder man würde ihn weiter foltern“, berichtet Oleksandrs Ehefrau Kateryna. Die Ermittlungen gegen ihren Mann seien abgeschlossen und es sei klar, dass er nach Vorgabe der Sicherheitskräfte verurteilt werden würde, sagt die Ehefrau weiter. Inzwischen leide Oleksandr unter Herzbeschwerden, Schlaflosigkeit und Taubheit. Weil die Verhandlungen noch andauern, kann Oleksandr Martschenko derzeit nicht ausgetauscht werden. Im drohen zwanzig Jahre Haft.

Die erwähnten Schicksale stellen nur einen Bruchteil aller Fälle dar. Über einhundert Ukrainer befinden sich in Russland aus politischen Gründen illegal in Haft. Das von Internews Ukraine gestartete Projekt #Prisoners Voice soll den Häftlingen eine Stimme geben. Durch Augmented Reality können sich Benutzer in die Lage der Gefangenen hineinversetzen.

Diese Veröffentlichung wurde von Internews Ukraine mit Unterstützung der Ukrainischen Kulturstiftung und dem Zentrum für Bürgerrechte und anderer Partner erstellt. Die Meinung der Ukrainischen Kulturstiftung muss nicht zwingend mit der Meinung des Autors / der Autorin übereinstimmen.

Mym Panchenko, Analyst und Journalist bei Ukraine World und Internews Ukraine.

Quelle: Ukraine verstehen.